Wissenschaftler:innen im Umfeld des Heinrich-Hertz-Instituts arbeiten seit Wochen an einer Technologie, die Menschen warnt, wenn sie mit Corona-Infizierten in Kontakt waren. Sollte das funktionieren, könnte der Lockdown gelockert werden. Doch das hängt vor allem davon ab, wie viele mitmachen.
Auf dem Gelände der Julius-Leber-Kaserne im Berliner Norden werden sich in den kommenden Tagen interessante Szenen abspielen. Rund 50 Soldat:innen werden dort acht Stunden am Tag in Schutzkleidung vermummt Situationen nachstellen, wie sie sich sonst im zivilen Alltag abspielen. Auf dem Plan stehen der gemeinsame Aufenthalt in engen Räumen, Spaziergänge unter freiem Himmel, Zusammensitzen vor dem Fernseher oder Arbeitsmeetings. Immer mit dabei: Das Handy in der Tasche und darauf eine neue Technologie, die zum Schlüssel für die Eindämmung der COVID-19-Pandemie werden könnte.
Der Auftrag dürfte für das hier beheimatete Kommando Territoriale Aufgaben der Bundeswehr ungewöhnlich sein, normalerweise kümmert man sich um Waldbrände, sammelt Wetter- und Umweltdaten. Jetzt helfen die Soldat:innen dabei, eine Technologie zu kalibrieren, mit deren Hilfe bald ganz Europa die Ausbreitung der Covid19-Pandemie in den Griff bekommen soll. Die Schutzmontur tragen sie, weil auch für sie gilt: Ob bereits eine infizierte Person unter ihnen ist, weiß niemand.
Start der Entwicklung bereits vor drei Wochen
Entwickelt wird diese Technologie von einem internationalen Team aus Wissenschaftler:innen, IT-Fachleuten und einzelnen Unternehmen rund um das Fraunhofer Institut für Nachrichtentechnik (Heinrich-Hertz-Institut). Das Robert-Koch-Institut ist beteiligt, das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI), der Bundesdatenschutzbeauftragte hat eigens Leute zur Beratung abgestellt. Und jetzt sogar die Bundeswehr. Es scheint als sei zur Zeit möglich, was vor einigen Wochen kaum denkbar war: dass alle in einer erstaunlichen Geschwindigkeit zusammenarbeiten.
„Ich sage Ihnen, manchmal wird man überrascht“, sagt Chris Boos. Boos ist als Unternehmer Pionier auf dem Feld der Künstlichen Intelligenz und Mitglied im Digitalrat der Bundesregierung. Auf seine Initiative geht zurück, dass in Deutschland jetzt eine technologische Lösung entwickelt wird, die ganz Europa helfen soll. Anfang März bereits hat Boos im Digitalrat Alarm geschlagen, damals verzeichnete Deutschland erst rund 200 bestätigte Fälle und der Tenor der Anwesenden war, man hätte noch Zeit.
Boos war anderer Ansicht. Er ist vertraut mit der Dynamik von exponentiellem Wachstum. Bei einem Treffen im Digitallabor des Gesundheitsministeriums trifft er Thomas Wiegand, Leiter des Heinrich-Hertz-Institutes. Der stellt den Kontakt zum RKI her und gemeinsam begannen sie ein Team von internationalen Freiwilligen zu koordinieren. Sie arbeiten im Ehrenamt, und wollen das Projekt langfristig durch Spenden finanzieren.
Räumliche Nähe messen, Privatsphäre wahren
Ihr Ziel: So bald wie möglich eine Technologie für die Nachverfolgung der Infektionsketten bauen, um die Kontaktsperren zu lockern und zur sozialen und wirtschaftlichen Normalität zurückzukehren. Das wird laut Epidemiolog:innen nur möglich sein, wenn wir es schaffen, alle Infizierten und ihre Kontaktpersonen schnell zu isolieren, bevor sie das Virus weitergeben.
Wie kann so eine Lösung technisch aussehen? Expert:innen hatten in der Vergangenheit immer wieder darauf hingewiesen, dass etwa Funkzellendaten, die Jens Spahn gerne auswerten würde, zu ungenau seien, um sie im Kampf gegen Corona zu nutzen – von den verheerenden Auswirkungen auf die Privatsphäre mal ganz abgesehen. Es geht schließlich darum herauszufinden, ob Menschen über längere Zeit wenige Meter Abstand zueinander hatten, nicht ob sie in der gleichen Straße leben.
Das Team stützt sich deswegen auf Bluetooth-Low-Energy-Technologie. Deren Nachteil, dass sie nur über wenige Meter Reichweite Verbindungen herstellen kann, wird hier zum Vorteil. „Wir können das mit Bluetooth lösen und mit einer Genauigkeit von 1,5 Metern sagen, wie nah zwei Leute beieinander stehen,“ sagt Wiegand.
Das größere Problem, sagt Boos, war die Frage des Datenschutzes: Wie kann man physische Nähe zwischen zwei Handys nachverfolgen, ohne die Privatsphäre der Handynutzer:innen zu gefährden? Das wäre der Fall, wenn man einzelne Personen identifizieren könnte, etwa anhand einer Telefonnummer, technischer Daten des Handys oder über ihr Bewegungsprofil. Während Kanzleramtschef Helge Braun noch die südkoreanische Tracking-Technologie lobte, war den Beteiligten schnell klar, dass eine solche Lösung in Europa nicht funktionieren würde. In Südkorea hat die Veröffentlichung von Daten unter anderem zu öffentlichen Hetzkampagnen gegen Infizierte geführt, nachdem ihre Identität bekannt wurde.
Auch ein System, dass dem Staat Zugriff auf die Bewegungsprofile von Einzelnen gibt, sei mit europäischen Prinzipien nicht vereinbar, sagt Boos. „Das darf man nicht machen, auch nicht, wenn es gerade nötig ist“, sagt Boos. Eine Lösung für die Europäische Union müsse auch den Vorgaben der EU für den Datenschutz folgen, gerade in Krisenzeiten. „Wir haben extrem viele Designaspekte so gewählt wie sie sind, damit die Privatsphäre gewahrt bleibt,“ sagt Thomas Wiegand.
Wo und wer ist egal, entscheidend ist, wie nah und wie lange
Das Team hat sich deswegen für eine Lösung entschieden, die auf Ortsdaten komplett verzichtet. Aus Sicht der Infektionswissenschaft ist schließlich egal, wann und wo man mit einer infizierten Person in Kontakt war. Entscheidend ist, in welchem Kontext es passiert ist, erklärt Wiegand. Denn auf dem Fahrrad ist eine Infektion unwahrscheinlicher als in der U-Bahn, im Park unwahrscheinlicher als im Büro. „Interessant ist im Grunde nur: Sind sie drinnen oder draußen und wen treffen sie da eigentlich und wie nah ist ihnen die Person gekommen?“
Konkret soll das Tracking so funktionieren: Nutzer:innen laden die App auf ihr Handy, je mehr desto besser. Die App generiert alle paar Minuten eine neue temporäre ID und sendet diese aus. So kann man keine Rückschlüsse auf die Person oder das Gerät ziehen. Geht man davon aus, dass der Kontakt epidemiologisch relevant war, etwa weil zwei Geräte mehr als 15 Minuten weniger als 2 Meter voneinander entfernt waren, wird er abgespeichert. Das passiert lokal auf dem eigenen Telefon. Wird eine Person später positiv auf das Corona-Virus getestet, kann sie freiwillig ihre lokal gespeicherten Daten an einen Server hochladen.
Erst dann und nur falls die Person zustimmt erfährt der zentrale Server, mit welchen anderen temporären IDs das Handy in Kontakt war. Der Server kann nicht entschlüsseln, welche Personen sich hinter diesen IDs verbergen. Er kann sie aber über die App benachrichtigen. Die Nutzer:innen könnten also schnell über den Kontakt informiert werden und eine Aufforderung erhalten: Bitte begeben sie sich in Quarantäne und melden sie sich bei ihrem Gesundheitsamt. (Die technischen Details erklären Johannes Abeler, Matthias Bäcker und Ulf Buermeyer in diesem Gastbeitrag. Buermeyer hat auch das Entwicklungsteam beraten.)
Damit Menschen, die im Ausland unterwegs sind und dort Kontakt zu einer infizierten Person hatten, ebenfalls benachrichtigt werden können, sind in die anonymen IDs auch verschlüsselte Ländercodes eingebaut. So könnte etwa ein Urlauber, der in Österreich Skifahren war, nach seiner Rückkehr darüber informiert werden, dass er dort Kontakt mit einer positiv getesteten Person aus Österreich hatte – auch wenn der eine die österreichische und der andere die deutsche App nutzt.
Eine Technologie als Grundlage, viele nationale Apps
„Wir bauen hier keine App, sondern eine Technologie“, betont Thomas Wiegand vom Heinrich-Hertz-Institut. Auch den Namen habe man absichtlich sperrig gewählt: Pan European Privacy Protecting Proximity Tracing (PEPP-PT) soll die Technologie heißen. An der Entwicklung sind Wissenschaftler:innen aus mehreren europäischen Ländern beteiligt, die Technologie ist quelloffen und soll später von allen genutzt werden können. So könnten Deutschland, Italien oder Spanien auf diesem Gerüst ihre jeweils eigenen Apps bauen, die Technologie im Hintergrund wäre überall die gleiche. Das ist entscheidend für die Interoperabilität, also die Fähigkeit der Systeme möglichst nahtlos zusammenzuarbeiten. Nur so könnten die Infektionsketten auch über Ländergrenzen hinweg verfolgt werden.
In Deutschland wird offiziell das Robert-Koch-Institut die App veröffentlichen. RKI-Chef Lothar Wieler hatte bereits Anfang März angekündigt, dass man an einer Lösung arbeite. Die Bausteine dafür baut derzeit ebenfalls das Heinrich-Hertz-Institut. Auf einen Launchtermin will sich noch niemand festlegen, ein Sprecher von Fraunhofer spricht von der Zeit „nach Ostern“.
Die beste Lösung für die Privatsphäre zu finden, daran war das Team schon aus strategischen Gründen interessiert. Denn die App soll freiwillig heruntergeladen werden. Zugleich gilt: Nur wenn möglichst viele mitmachen und die App freiwillig nutzen, wird man den gesellschaftlichen Lockdown wieder lockern können. Der Schweizer Epidemiologe Marcel Salathé, der an der Entwicklung mitwirkt, sagt, erst wenn jeder Fall einer möglichen Infektion nachverfolgt werden kann und die Infektionskette so unterbrochen würde, können man wieder zur Normalität übergehen. Weil Corona bereits vor ersten Symptomen ansteckend sei, reiche es nicht, die Kranken zu isolieren. Auch die Infizierten ohne Symptome müssten in die Isolation, „damit nicht jeder Funke gleich zum Waldbrand wird“.
Damit das gelingt, müssten Studien zufolge mindestens rund 60 Prozent der Bevölkerung eine solche App nutzen. In Deutschland hieße das: 50 Millionen Menschen. Oder auch: so gut wie alle, die überhaupt ein Smartphone nutzen. Laut Bitkom sind das 81 Prozent aller Bürger:innen über 14 Jahren.
Die Chancen dafür stehen nicht schlecht. Einer repräsentativen Umfrage aus der vergangenen Woche zufolge würden mehr als 70 Prozent der Befragten so eine App auf jeden Fall oder wahrscheinlich nutzen. Die Mehrheit gibt an, den Aufforderungen der App nachkommen zu wollen und sich in Quarantäne zu begeben, sollten sie mit einer infizierten Person in Kontakt gekommen sein.