Weltweit bauen demokratische Staaten Grundrechte ab, um gegen das Coronavirus vorzugehen. Manchen Regierungen scheint das aber nur ein vordergründiges Anliegen zu sein. Leichtfertig abgesegnet könnten temporäre Maßnahmen zur Dauereinrichtung werden – und zum Schuss ins eigene Knie.
Ein ausgeschaltetes Parlament, langjährige Haftstrafen für das Verbreiten von „Falschnachrichten“ oder für Verstöße gegen das Ausgehverbot: So weit wie das von Viktor Orbán regierte Ungarn ist bislang noch kein EU-Land gegangen, um die Coronakrise einzudämmen. Sollte das Parlament dem Gesetzentwurf nächste Woche mit der notwendigen Zweidrittelmehrheit zustimmen – wovon Beobachter des Landes ausgehen –, dann hätte Ungarn bis auf Weiteres sein demokratisches und schon länger humpelndes Experiment beendet.
In aller Welt versuchen derzeit die Regierungen, schnell die richtige Antwort auf die Pandemie zu finden. Manche, darunter Orbáns rechte Fidesz-Partei, scheinen eher die Gunst der Stunde zu nutzen, um ihre Macht abzusichern und ihre Kritiker zum Verstummen zu bringen, als mit demokratischen Mitteln die aktuelle Gesundheitskrise in den Griff zu bekommen.
Nicht unähnlich die Situation in Israel: Dort setzt die Regierung des Premiers Benjamin Netanyahu höchst invasive Techniken ein, die das Land sonst im Anti-Terror-Kampf nutzt. Dem Inlandsgeheimdienst ist nun unter anderem erlaubt, sämtliche Handys des Landes zu tracken, ohne die Daten zuvor zu anonymisieren. Das soll dazu dienen, die Einhaltung der Quarantäne zu überprüfen und gegebenenfalls Infektionsketten nachzuverfolgen.
Staaten könnten bleibende Fakten schaffen
Solche Meldungen lassen vielerorts die Alarmglocken schrillen. „Ich befürchte, in den nächsten Wochen und Monaten wird ungefähr jede vorstellbare digitale Überwachungsmaßnahme ins Spiel gebracht werden“, sagt der Überwachungsexperte Wolfie Christl. „Es besteht die Gefahr, dass Firmen und Staaten dabei bleibende Fakten schaffen. Viel mehr noch als nach 9/11.“
Bislang blieb Deutschland von überbordenden und drakonischen Maßnahmen weitgehend verschont, selbst wenn der eine oder andere Testballon aufgestiegen ist. Dennoch kommt es auch hierzulande zu Grundrechtseinschränkungen, etwa zu Ausgangssperren. Das mag gerechtfertigt erscheinen, um eine Gesundheitskatastrophe zu verhindern.
Allerdings mahnte jüngst die Rechtswissenschaftlerin Andrea Edenharter, die Balance zu wahren: „Ebenso wie eine bloße laissez faire-Strategie fehl am Platze wäre, darf in die Freiheitsrechte der Bürger trotz der Krise nicht in verfassungswidriger Weise eingegriffen und auf diese Weise eine faktische Entmündigung der Bevölkerung vorgenommen werden.“
Aktionismus wirkt oft
Zuweilen nehmen solche Bestrebungen beinahe amüsante Ausmaße an. In Polen beispielsweise müssen in Heim-Quarantäne gesteckte Bürger via Selfie nachweisen, sich tatsächlich zu Hause aufzuhalten. Antworten sie nicht innerhalb von 20 Minuten oder verweigern die Installation der dazu notwendigen App, dann hört der Spaß schnell auf: Sie müssen mit einem Polizeibesuch und Geldstrafen rechnen.
Wenig zu lachen hatten auch Menschen, die aufgrund überstürzter Grenzschließungen nicht nach Hause konnten und Schleichwege nehmen mussten. Wie in einem Film aus Zeiten des Kalten Krieges soll es an der deutsch-polnischen Grenze ausgesehen haben, berichtet die Historikerin Anne Applebaum. Straßensperren und bewaffnete Streifen sollten ein Gefühl der Sicherheit vermitteln.
Dass es dabei zu einer laut dem Deutschen Roten Kreuz „humanitär bedenklichen Situation“ gekommen ist, die eher Aktionismus als eine wirksame Maßnahme gegen die Corona-Ausbreitung war und die Sperren inzwischen gelockert werden mussten, scheint keine große Rolle gespielt zu haben. In Krisenzeiten eignet sich Symbolpolitik hervorragend dazu, das Image eines „Machers“ zu stärken – wie es dem rechtskonservativen polnischen Präsidenten Andrzej Duda bislang gelungen ist, der sich im Mai seiner Wiederwahl stellen will und in Umfragen meilenweit vorne liegt.
Selbst US-Präsident Donald Trump, der noch vor wenigen Wochen die Coronakrise als einen von den Medien inszenierten „Hoax“ bezeichnete, seinen wissenschaftlichen Beratern das Leben zur Hölle macht und neuerdings (mit einiger Sicherheit fälschlicherweise) davon ausgeht, die Krise bis Ostern bewältigt zu haben, kann sich über Höhenflüge in Meinungsumfragen freuen. 60 Prozent der Befragten bescheinigen ihm derzeit, gute Arbeit in der Krisensituation geleistet zu haben. Nichtsdestotrotz unternahm sein Justizminister Bill Barr kürzlich einen ersten Versuch, die Situation für massive Grundrechtseinschränkungen zu nutzen, scheiterte vorerst aber an parlamentarischem Widerstand.
„Wir müssen wachsam sein“, sagte der Soziologe Richard Sennett dem Tagesspiegel. Der Brite macht sich Sorgen darum, dass die Notfallmaßnahmen, wie sie nun überall ergriffen werden, dauerhaft installiert bleiben. „Mehr Überwachung, mehr Kontrolle könnte die bisherigen Regelungen ersetzen, legitimiert durch die Krise, aber über ihre zeitlichen Grenzen hinaus“, warnt Sennett.
Südkorea will Überwachungspraxis überdenken
Dabei ist gar nicht sichergestellt, dass rigorose Überwachung tatsächlich mehr hilft als schadet. In Südkorea etwa, das von CDU-Gesundheitsminister Jens Spahn am Montag lobend für sein Handy-Tracking erwähnt wurde, kam es zu einer Reihe an Datenschutzskandalen. Leichtfertig veröffentlichte Details aus dem Privatleben von möglicherweise mit dem Coronavirus Infizierten führten zu Online-Hetzjagden, Verschwörungstheorien und Erpressungsversuchen.
Und letztlich zu der Ankündigung der südkoreanischen Gesundheitsbehörden, ihre bisherige Praxis überarbeiten zu wollen. Sie fürchten, die Vorfälle könnten Menschen davon abhalten, sich testen zu lassen – was die bis dahin geschafften Erfolge umgehend zunichte machen könnte.
Ohnehin scheinen ganz andere Faktoren ausschlaggebend für den Erfolg zu sein als eine lückenlose Überwachungsmaschinerie: ein gut ausgebautes Gesundheitssystem etwa samt ausreichenden Testkapazitäten; handlungsfähige Behörden, die rasch eventuell Infizierte ausfindig machen und sie gegebenfalls isolieren; und ein politisches System, das seinen Bürgern vertraut und umgekehrt.